Daten und Digitalisierung als Schlüssel zur Dekarbonisierung des Fernwärmesystems 

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Die Fernwärmebranche hat keine Zeit zu verlieren, um den Sektor zu dekarbonisieren und die hoch gesteckten Klimaziele der EU zu erreichen. Der Weg in die Zukunft führt über niedrigere Temperaturen im Fernwärmenetz. Doch dies ist durchaus nicht einfach. Im Folgenden nehmen wir die Schwierigkeiten genauer unter die Lupe und zeigen auf, wie Fernwärmeunternehmen bei der Umstellung auf erneuerbare Energien und reduzierte Temperaturen die Versorgungssicherheit zuverlässig gewährleisten können. 

Der Fernwärmesektor steht heute vor der doppelten Herausforderung, die Fernwärmesysteme zu erweitern und zu dekarbonisieren. Ein Drittel des Energieendverbrauchs in der EU entfällt auf das Heizen von Räumen und die Warmwasserbereitung in Gebäuden. Das bedeutet, dass alle Fernwärmesysteme in Europa in den nächsten sieben Jahren um jährlich 2 Prozent erweitert werden müssen, um den für 2030 angestrebten Anteil von 43 Prozent emissionsfreier Wärme zu erreichen. Die Unbeständigkeit der erneuerbaren Energien und die steigenden Kosten für fossile Brennstoffe machen es jedoch schwierig, den optimalen Weg zur Klimaneutralität zu finden und gleichzeitig die Betriebskosten unter Kontrolle zu halten. 

Niedrige Temperaturen bilden eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Transformation, da sie den Einsatz erneuerbarer Wärmequellen, die Nutzung industrieller Abwärme und die effiziente Einbindung von Erzeugungssystemen wie der Kraft-Wärme-Kopplung ermöglichen. „Effizienz als wichtigster Energieträger“ – dieses oft beschworene Zukunftsziel der Branche ist ohne reduzierte Temperaturen kaum zu erreichen. 

Steigende operative Komplexität 

Nicht nur unter Kapazitäts-, sondern auch unter Kostenaspekten bringt die Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit entlang der gesamten Wertschöpfungskette zahlreiche Herausforderungen mit sich. Die operative Komplexität von Fernwärmesystemen nimmt aus mehreren Gründen zu (Abbildung 1): 

  • Fernwärmesysteme müssen unter Einhaltung von Durchfluss- und Druckvorgaben bei niedrigeren Temperaturen betrieben werden, um Wärmeverluste zu verringern und den Einsatz erneuerbarer Energiequellen zu ermöglichen. 

  • Systeme, die mit Wärme von mehreren, über das Netz verteilten Erzeugern arbeiten, sind schwieriger zu steuern. 

  • Moderne Wärmespeicher erhöhen die Flexibilität, steigern jedoch auch die Komplexität des Gesamtsystems. 

  • Die Integration des Systems mit Industrie-, Strom- und Kältenetzen verstärkt die wechselseitigen Abhängigkeiten. 

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Abbildung 1. Fernwärmenetze wandeln sich zu komplexen Energiesystemen 

Entsprechend der europäischen Gesetzgebung haben die Unternehmen begonnen, ihre Fernwärmesysteme mit intelligenten Wärmezählern und anderen Sensoren auszustatten. Daten gelten als entscheidende Voraussetzung für die Steuerung komplizierter Systeme. Je mehr Daten aus der Wärmeerzeugung, dem Fernwärmenetz und den Unterstationen zur Verfügung stehen, desto besser lassen sich Möglichkeiten zur Verbesserung der Gesamteffizienz ausfindig machen. 

Allerdings fehlt es oft an unterstützenden Systemen oder an der nötigen Expertise, um aus den Daten die richtigen Schlüsse für eine effizientere Steuerung des Fernwärmesystems zu ziehen. Was die Branche benötigt, ist die Vernetzung aller Systeme und die Nutzung ihrer Daten, um die Transformation voranzutreiben und gleichzeitig die Versorgungssicherheit aufrecht zu erhalten. 

Vermeidung von Kostensteigerungen trotz erhöhter Systemkomplexität 

Mit zunehmender Komplexität wächst auch die Unsicherheit, ob sich das Fernwärmesystem erwartungsgemäß verhält und die Versorgungssicherheit gewährleistet bleibt. Viele Unternehmen setzen auf Sicherheitsmargen, um keine Risiken einzugehen. Dadurch kann es jedoch zu Überkapazitäten in verschiedenen Bereichen kommen, z. B. zu überdimensionierten Rohrleitungen, übersteigerter Pumpkapazität oder überhöhten Temperaturen im gesamten Fernwärmenetz. 

Wie können Unternehmen die Kosten und die Systemkomplexität in den Griff bekommen? Drei Ansätze bieten sich an: 

1.Erstellung eines realistischen und dynamischen Modells des gesamten Fernwärmesystems: Durch die Modellierung eines längeren Zeitraums statt einer „Momentaufnahme“ von Lastspitzen oder Grundlast können sich Unternehmen ein besseres Bild davon machen, wann und wie häufig ein bestimmtes Problem auftritt. 

2.Nutzung des historischen Systembetriebs für Modelle im Fall von Erweiterungen: Statt sich auf das „theoretische“ historische Parametermodell aus der Entstehungszeit des Systems zu verlassen, sollten vorhandene Systemdaten von Sensoren, Erzeugern und intelligenten Messgeräten genutzt werden. 

3.Durchdachte Planung zukünftiger Steuerungssysteme: Oftmals ist der Lastspitzenbedarf für die Kosten und die Systemgröße maßgeblich. Sinnvoller wäre es jedoch, Lastspitzen durch spezielle Puffer und ein Vorladen des Systems (vorübergehende Erhöhung der Temperaturen) zu verringern. Es lohnt sich, diese Strategien während der gesamten Planungsphase zu berücksichtigen, da sich dadurch die Spitzenauslastung des Systems verringern lässt. 

Verbesserter Einblick in den laufenden Betrieb 

Die Installation intelligenter Zähler zur kontinuierlichen Datenerfassung ist nur der erste Schritt. Die Unternehmen brauchen auch Instrumente, die es ihnen ermöglichen, aus diesen Daten einen wirtschaftlichen Nutzen ziehen, die Kosten zu senken und einen höheren Grad an Dekarbonisierung zu erreichen. Der Bedarf an solchen Tools ist mit Händen zu greifen, denn die Teams, die diese enormen Datenmengen nutzbar machen wollen, stoßen in der Regel auf zwei Probleme: 

1. Oft werden Daten in isolierten Silos gespeichert, d. h. in verschiedenen Abteilungen, auf verschiedenen Servern oder sogar auf einzelnen Computern, sodass sie an anderen Stellen im Unternehmen nicht zur Verfügung stehen. 

2.Nicht alle Daten bergen einen Mehrwert; daher ist es sinnvoll, die Datenanalyse weitgehend zu automatisieren und die für die Entscheidungsfindung relevanten Erkenntnisse herauszufiltern. Um diesen Problemen zu begegnen und das Potenzial der Daten zu erschließen, bieten sich zwei Vorgehensweisen an. 

Die bereits vorhandenen Daten analysieren: Viele Fernwärmeunternehmen gehen davon aus, dass sie Daten erst dann für Analyse- und Entscheidungszwecke nutzen können, wenn sie ihnen in großen Mengen zur Verfügung stehen. Doch schon eine geringe Datensammlung aus einem SCADA-System oder von IoT-Sensoren kann Erkenntnisse für Prognosen oder konkrete Handlungsempfehlungen liefern, wenn die Daten mit einer modernen digitalen Lösung analysiert werden. Durch die Verknüpfung der Datensätze oder Sensor-Tags mit einem Digitalen Zwilling können Unternehmen sofort Erkenntnisse gewinnen und von den Vorteilen der Automatisierung profitieren. 

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Abbildung 2. Ein Digitaler Zwilling in Echtzeit, der auf Tausenden von intelligenten Wärmezählern, Feldsensoren und Live-Anlagendaten basiert 

Die Daten vernetzen, um Silos zu vermeiden: Fernwärmeversorger brauchen flexible Kapazitäten. Sie müssen Wärme in Speichern, im Fernwärmesystem selbst und sogar in Gebäuden vorhalten, um Erzeugungsschwankungen auszugleichen und mehrere Strommärkte bespielen zu können. Wenn Tools und Daten nicht vernetzt sind, kann jedoch in diesen Szenarien das maximale Wertschöpfungspotenzial nicht realisiert werden. 

Traditionell werden Tools einer bestimmten Komponente des Systems zugewiesen und nur von einem einzigen Team verwendet. Dadurch ist das Zusammenwirken des Gesamtsystems nur begrenzt durchschaubar. Deshalb müssen die Daten der verschiedenen Sensoren, Systemen und Tools miteinander vernetzt werden. Ein vollständiger Überblick über das Gesamtsystem steigert die Flexibilität und macht es möglich, Zukunftsszenarien auszuwerten, die objektive Entscheidungsgrundlagen liefern und zu effektiven Kostensenkungen führen. 

Vorbereitung einer vollständigen Automatisierung 

Da die Fernwärmesysteme immer komplexer werden, stellt die Echtzeit-Koordinierung zwischen den einzelnen Systemen und Funktionen eine zunehmende Herausforderung dar. Viele Fernwärmeunternehmen haben erkannt, dass es notwendig ist, diese Komplexität durch Automatisierung zu beherrschen. Ihre Zukunftsvision sind Energiesysteme, die im „Copilot-Modus“ laufen und deren Systemverhalten mithilfe einer intelligenten digitalen Steuerung von Personal im Leitstand überwacht wird. 

Um die Komplexität zu beherrschen, bedarf es innovativer Optimierungssysteme, die die Wärmeerzeuger und das Fernwärmesystem als Ganzes analysieren. Dies bedeutet eine Abkehr von herkömmlichen Datenanalyse-Tools, die das Fernwärmesystem oftmals zu vereinfacht abbilden und kritische Faktoren wie Wärmeausbreitung, Hydraulik, Energieerzeuger, Speicherung und Verbraucherdynamik außer Acht lassen. Doch ohne eine vollständige Datengrundlage ist es nahezu unmöglich, optimale Entscheidungen zu treffen. 

Fernwärmeunternehmen, die eine Automatisierung anstreben, benötigen zwingend eine digitale Lösung, die in Echtzeit die idealen Betriebssollwerte berechnen kann. Derzeit ist es üblich, die Erzeugung jeweils für den kommenden Tag zu optimieren und die Systemparameter mithilfe statischer Temperaturkurven zu verwalten. Um die Flexibilität des Systems jedoch voll auszuschöpfen, muss eine Lösung in der Lage sein, Prognosen auf granularer Ebene zu erstellen und das Gesamtsystem dynamisch zu optimieren. Sie muss flexible Sollwerte bieten und gleichzeitig Systembeschränkungen im Hinblick auf Temperaturen und Produktionspläne berücksichtigen. 

Ein Beispiel aus der Praxis 

Das finnische Energieunternehmen Helen, das Helsinki mit 7 TWh Fernwärme versorgt, setzt zur Erreichung seiner Klimaneutralitätsziele einen Digitalen Zwilling ein. Dieser erzeugt ein präzises physisches Abbild des Fernwärmesystems, das kontinuierlich mit intelligenten Sensordaten, Erzeugerdaten und Prognosen aktualisiert wird. Der Digitale Zwilling sorgt für ein optimales Gleichgewicht zwischen Durchfluss und Temperatur und gewährleistet, dass wenig Wärme verschwendet wird, die Verbraucher die richtige Wärmemenge erhalten und die Wärmepumpen ordnungsgemäß funktionieren. 

Auch für die Modellierung von Szenarien wird der Digitale Zwilling eingesetzt. Diese Analysen haben es dem Unternehmen ermöglicht, eines seiner Kohlekraftwerke stillzulegen und seine CO2-Emissionen um bis zu 40 Prozent zu verringern. Ein weiteres Kraftwerk soll 2025 abgeschaltet werden. Helen geht davon aus, dass auf diese Weise die CO2-Emissionen im Vergleich zu 1990 um bis zu 80 Prozent reduziert werden können und gleichzeitig die Erzeugungskosten um 10 Prozent sinken. 

Fazit 

Die Entwicklung, Steuerung und Wartung von Fernwärmesystemen wird immer anspruchsvoller. Um diese ständige Evolution zu bewältigen, bietet es sich an, die Systeme von vornherein besser zu durchschauen und aus der wachsenden Menge an gesammelten Daten einen Mehrwert zu ziehen. Die Erfolgsgeschichte von Helen, einem finnischen Energieunternehmen, das den Digitalen Zwilling einsetzt, ist ein Beweis für die positive Wirkung solcher Lösungen in Form erheblicher CO2-Einsparungen und niedrigerer Erzeugungskosten. 

Niedrigere Temperaturen, datengestützte Tools und die Orientierung an Best Practices in der Branche: Mit diesen Prioritäten können Fernwärmeunternehmen die dringendsten Aufgaben konkret angehen, ihre Nachhaltigkeitsziele erreichen und zugleich die Versorgungssicherheit gewährleisten. 

Dieser Artikel wurde ursprünglich im Magazin Euroheat & Power veröffentlicht. 

Dieser Artikel wurde ursprünglich im Magazin Euroheat & Power veröffentlicht. 

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