Umgang mit Komplexität bei gleichzeitiger Dekarbonisierung des Dampfnetzes

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Dampf stellt aufgrund seiner Zweiphasigkeit komplexe Anforderungen an die Analyse und Optimierung. Seine besonderen thermodynamischen Eigenschaften, wie Phasenwechsel mit latenter Wärmeübertragung und ein hohes spezifisches Volumen, das mit der Temperatur zunimmt, machen ihn zu einem komplexen Medium, das in der Prozessindustrie jedoch unverzichtbar ist.

Fragen zur Optimierung, z. B. „Wie können wir die Temperatur oder den Druck senken?“ oder „Wie können wir bei überhitztem Dampf Kondensation vermeiden und trotzdem die gleiche Dampfqualität gewährleisten?“ sind aufgrund der physikalischen Eigenschaften von Dampf alles andere als einfach zu beantworten.

Effektives Dampfstrom-management setzt voraus, dass Probleme wie Turbulenzen, Kondensation und Druckabfall gelöst werden.

Die Komplexität von Dampf

Änderungen an einzelnen Einheiten haben weitreichende Auswirkungen auf das angeschlossene Dampfsystem und die gesamte Dampfbilanz des Netzes. Dampfnetze sind integriert, bestehen oft aus mehreren voneinander abhängigen Druckebenen und sind für einen stationären Betrieb ausgelegt.

Weitere Herausforderungen bestehen darin, dass die historische Dokumentation und die Datenqualität bisweilen unzureichend sind, was eine genaue Bewertung der Dampfbilanz oder des dynamischen Verhaltens innerhalb des Dampfnetzes erschwert.

Da Dampfnetze oft aus mehreren Druckleveln bestehen, die nicht unabhängig voneinander sind, wirken sich Änderungen an anderer Stelle aus.

Darüber hinaus können geschäftliche Gründe, wie z. B. vertragliche Verpflichtungen innerhalb eines Chemieparks, die Komplexität einer Veränderung erhöhen. Ein Take-or-Pay-Vertrag mit einer vertraglichen Untergrenze für die zu entnehmende Dampfmenge kann dazu führen, dass Unternehmen keinen Nutzen aus einer Optimierung ziehen, da sie ihren Dampfverbrauch nicht wirklich reduzieren können.

Hardwareverbesserungen an Dampfnetzen, wie z. B. Sensoren oder Kondensatableiter, können eine teilweise oder vollständige Betriebsunterbrechung notwendig machen, was mit erheblichen Kosten und Risiken verbunden ist.

Dampf bildet keinen geschlossenen Kreislauf wie ein Stromnetz: Wenn ich den Durchfluss hier reduziere, muss der Dampf woanders hinfließen.

Industrieberater, Strategieberatung

Betreiber von Industriestandorten konzentrieren sich in der Regel auf die Leistung und die Versorgungssicherheit des Systems, beispielsweise indem sie zwei Heizkessel in Bereitschaft halten, die bei Bedarf Wärme liefern können. Bei der Steuerung von Dampfnetzen und der Festlegung von Sollwerten wird traditionell mit Vorsicht vorgegangen.

Dies hat jedoch die Umsetzung von Verbesserungsinitiativen auf der Ebene der Dampfprozesse gebremst. Durch die Hinzunahme neuer, dezentraler Quellen oder erneuerbarer Energien werden die Systeme immer komplexer und müssen anders und dynamischer betrieben werden als unter rein stationären Bedingungen.

Wie können Unternehmen mit dieser Komplexität umgehen? Im Folgenden finden Sie zwei Best Practices, die auf Interviews mit 35 Führungskräften für unseren Marktforschungsbericht basieren: Mit Volldampf voraus: Die Dekarbonisierung industrieller Dampfnetze als Chance.

Best Practice 1: Die Komplexität von Dampfnetzen erfordert einen Portfolio-Ansatz, da mehrere Dekarbonisierungsoptionen unter Berücksichtigung technologischer Grenzen, Emissionen, Vorteile und Kosten kontinuierlich bewertet werden müssen

Standorte mit besonders durchdachten Konzepten betrachten ihre Transformation als Portfolio von Maßnahmen und berücksichtigen dabei die Kompromisse, die bei der Dekarbonisierung abgewogen werden müssen, etwa in Bezug auf technologische Grenzen, Emissionen und Kosten.

Um einen solchen Portfolio-Ansatz zu verfolgen, müssen mehrere Optionen für die Dekarbonisierung laufend evaluiert werden. Mit dem Ausreifen der Optionen in diesem Evaluierungsprozess kristallisiert sich heraus, wie viel CO2 im Verhältnis zu den Kosten eingespart werden kann und was im Rahmen der aktuellen Standort-bedingungen, z. B. der verfügbaren Elektrizität oder der wartungsbedingten Unterbrechungen, machbar ist.

Oftmals sind auch Optionen darunter, die derzeit vielleicht nicht wirtschaftlich sind, von denen man aber vernünftigerweise erwarten kann, dass sie es in Zukunft sein werden, z. B. aufgrund höherer CO2 - und Energiekosten. Diese Optionen zu kennen, hilft bei der Planung.

Mehrere Optionen vergleichen

Die von uns befragten Führungskräfte wiesen häufig auf die Taktik hin, mehrere Optionen miteinander zu vergleichen – zum Beispiel die Ersetzung eines Heizkessels durch eine normale Wärmepumpe oder durch eine Wärme-pumpe, die die Abwärme eines Kondensators nutzt. Dies bedeutet oft, dass man sich innerhalb der vorhandenen Grenzen bewegen, aber auch die Fähigkeit entwickeln muss, vorausschauend zu denken.

Ein konkretes Beispiel ist die Entwicklung einer Vermeidungskostenkurve für einen Standort, die alle derzeit verfügbaren Optionen zur Dekarbonisierung mit einer Kosten/tCO2 -Logik beinhaltet.

Als weiteres Beispiel wurde uns genannt, dass beim Austausch der vorhandenen Erdgasbrenner vorsorglich bereits auf „H2-ready“-Heizkessel umgestellt wurde. Eine andere, radikalere Variante ist die Umstellung auf Dampf anstelle von Strom als Energieträger zwischen verschiedenen Standorten, bedingt durch die Beschränkungen des Stromnetzes und den potenziellen Ausbau.

In meinem Unternehmen gibt es eine klare Aufgabenteilung: Der Betrieb liefert Projektideen und Ressourcen, und die Zentrale stellt Geld für Investitionen bereit.

Technologieleiter, Energie- und Versorgungs-unternehmen

Organisationsübergreifende Nutzung von Know-how

Vorschläge für Dekarbonisierungsmöglichkeiten gehen oftmals sowohl von zentralen Teams als auch von lokalen Standorten aus, da beide Seiten über erhebliches Know-how verfügen. Die Zusammenarbeit zwischen diesen Stellen spielt eine entscheidende Rolle, um Verbesserungen des Dampfnetzes effizient umzusetzen. Die Befragten, die ihren Ansatz als erfolgreich bewerteten, konnten meist leicht beschreiben, wie die Zuständigkeiten zwischen den zentralen und den lokalen Teams aufgeteilt waren.

Wo eine solche Verteilung der Verantwortlichkeiten nicht definiert war, scheiterten Projekte oftmals an fehlenden finanziellen Mitteln oder Ressourcen, weil die Teams in der Zentrale und vor Ort jeweils auf Lösungen der anderen Seite warteten.

Gradyent.ai

Kurzfristige Maßnahmen können wir immer durch eigene Initiativen vor Ort erreichen – organisatorische Maßnahmen, Optimierung der Steuerungs-philosophie usw. – es gibt keine Verbindung zu CAPEX. Für größere Projekte, bei denen es um Unternehmensziele und -Richtlinien geht, haben wir eine zentrale Abteilung, die Verbesserungsmaßnahmen prüft. Das Team analysiert auch unternehmensweite Investitionen und Projekte. Große Investitionen werden immer auf ihre Wirtschaftlichkeit und Rentabilität geprüft.

Energie Business Developer, Petrochemisches Unternehmen

Best Practice 2: Digitalisierung bildet die Grundlage für einen systemischen Ansatz, durch sie kann die Genauigkeit der Sensordaten und der daraus resultierenden Erkenntnisse verbessert werden

Immer mehr Unternehmen setzen moderne IT-Lösungen ein, die eine Ebene oberhalb der Systeme der Betriebstechnologie (OT) bilden. Ein Beispiel sind verteilte Kontrollsysteme (DCS). Mit Tools wie Online- oder Offline-Modellen können Unternehmen Fortschritte erzielen, die zuvor aufgrund der begrenzten Datenlage nicht möglich waren.

Diese Tools arbeiten häufig mit den über das DCS-System verfügbaren Daten und ergänzen diese durch Modellierung. Da diese Modelle eine erhebliche Rechenleistung erfordern, werden sie durch moderne, cloudbasierte Lösungen unterstützt und ermöglicht.

Die neue Ära des digitalen Werkzeugbaus

Letztlich geht es darum, präzise Einblicke in die Systeme zu gewinnen. Um dieses Ziel zu erreichen, prüfen die Betreiber verschiedene Methoden: von der Einbindung von Sensoren (oft mit einer Betriebsunterbrechung verbunden) bis zur Erweiterung bestehender Software auf andere softwarebasierte Lösungen.

Mit solchen Tools können Unternehmen die nachgelagerten Auswirkungen von Änderungen simulieren und die Folgen einer Änderung verstehen, z. B. wenn es um die Frage geht, wie sich Entscheidung 1 in Kontrollraum A auf ein bestimmtes von Kontrollraum B kontrolliertes Netzsegment auswirken wird.

Es stellt sich auch die Frage, inwieweit man alles komplett abbilden muss oder wo die goldene Mitte liegt zwischen dem Aufwand, ein solches Modell zu erstellen, und dem Arbeits- und Zeitaufwand, alle vorhandenen Einschränkungen abzubilden und dann tatsächlich den Nutzen aus einer solchen Optimierungssoftware zu ziehen, die Maßnahmen oder automatisierte Schritte vorschlägt.

Energiemanager, Große Papierfabrik

Fazit

Die Dekarbonisierung von Dampfnetzen stellt aufgrund ihrer Komplexität und der komplizierten thermodynamischen Eigenschaften von Dampf eine große Herausforderung dar. Ein effektives Management erfordert ein umfassendes Verständnis des Systems, die Umsetzung eines Portfolio-Ansatzes zur Bewertung mehrerer Dekarbonisierungsoptionen und die Berücksichtigung technologischer Grenzen.

Der Einsatz digitaler Tools wie Echtzeit-Plattformen für digitale Zwillinge kann den Systemeinblick verbessern und Betreibern ermöglichen, die Leistung des Dampfnetzes effektiv zu simulieren und zu optimieren.

Weitere Best Practices für die Dekarbonisierung des Dampfnetzes finden Sie in unserem Mit Volldampf voraus: Die Dekarbonisierung industrieller Dampfnetze als Chance, mit Einblicken von 35 führenden Vertretern der europäischen Industrie.

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